Carl Roesch und die Jungen

Text von Markus Landert

Ab 1950 trifft sich der bereits bejahrte Carl Roesch regelmässig eine Anzahl junger Künstler aus Schaffhausen und Umgebung. Im Tagebuch schreibt er über ein Treffen: «Abends nach Schaffhausen, nach den Geschäften mit den Jungen im Café gesessen, deren Gegenwart und gegenseitige Aussprache mir ausserordentlich gut tut.» Oder: «Schachenmann kommt und kritisiert. Bin froh darüber, man wird zusehends blinder an der Arbeit. Einige Änderungen, die ich einsehe, werden gut tun.» Und auch das Vergnügen kommt nicht zu kurz: «Schachenmann bringt ein Auto voll junger Kollegen. Wir hängen Lampions in die Äste und feiern einen Malerabend.» Eine 1962 in der Zeichnungsausstellung von Carl Roesch im Museum zu Allerheiligen geschossene Fotografie von Bruno und Eric Bührer bringt das Verhältnis zwischen Carl und den Jungen auf den Punkt. Der «weisshaarige Alte» steht vor seinem Bild und debattiert mit Albert Schachenmann, Paul Pflügl und dem Kurator der Kunstabteilung, Dr. Max Freivogel, über das zu Sehende. Generationen liegen zwischen den am Gespräch Beteiligten, was aber deren Vergnügen und Engagement nicht zu schmälern scheint.

Seit den späten Fünfzigerjahren gehören auch Bruno und Eric Bührer zur jungen, aufstrebenden Kunstszene von Schaffhausen. Die beiden 1936 geborenen Zwillingsbrüder haben beide die Kunstgewerbeschule in Zürich besucht und betreiben seit 1961 ein gemeinsames Fotoatelier in Schaffhausen. Zwischen den beiden Fotografen und dem Ehepaar Roesch entwickelt sich eine enge Freundschaft. Die Zwillinge chauffieren das Ehepaar mit ihrem Auto zu Ausstellungen oder Freunden und oft trifft man sich zu gemütlichem Beisammensitzen im Atelier. Bei diesen Treffen ist die Kamera meist mit dabei und es entstehen über die Jahre hinweg Hunderte von Fotografien, die einen intimen Einblick in das Leben von Carl und Margrit Roesch geben. Dieses Konvolut von Fotografien ist als Dokumentation über ein Künstlerleben einzigartig. Die Bührers zeigen Carl Roesch nicht nur beim Malen oder beim Zeichnen in seinem Atelier. Sie ertappen ihn auch mal während einer Arbeitspause, ganz entspannt beim Bier mit Nachbarn und seiner Haushälterin. Mit dem weissen Arbeitskittel sieht der Künstler aus wie der Patron eines Kleinunternehmens. Oder sie begleiten ihn bei einem Besuch im Atelier von Max Uehlinger in Minusio, und enthüllen, wie Carl Roesch selbst bei seinem langjährigen, engen Freund förmlich mit Anzug und Krawatte auftritt. Oft ist auch Margrit Roesch zu sehen, immer elegant gekleidet, manchmal mit dem Skizzenblock auf den Knien. Mit ihr zusammen zeigt Carl Roesch sich auch mal lachend – er, der auf fast allen anderen Bildern als ernster, fast grimmig dreinblickender Denker erscheint.

Auf den Fotografien von Bruno und Eric Bührer ist nichts inszeniert. Carl Roesch spielt hier nicht eine Rolle, wie dies bei früheren Porträtfotografien oft der Fall gewesen ist. Die Fotografien der Bührers dienen keinem didaktischen oder repräsentativen Zweck. Der Künstler tritt hier als Mensch mit all seinen Stärken, Angewohnheiten, Eitelkeiten auf. Bewusste oder aktive Selbstinszenierung hat Carl Roesch in den späten Lebensjahren nicht mehr nötig. Er ist das, was sein langes Leben aus ihm gemacht hat.

Manche der Porträts von Bruno und Eric Bührer sind weit mehr als reine Dokumentationsfotografien. Im Atelier von Max Uehlinger entstehen etwa Aufnahmen, deren Stimmung das Absurde streift und in denen der Künstler Teil einer fremden, geheimnisvollen Welt zu werden scheint. Zu einer Meditation über den Sinn des Lebens und über die Frage, was den der Mensch sei, wird gar jene Atelieransicht, in welcher der alte Künstler, die behinderte Maria Schwegler im Rollstuhl und ihr Neffen vor den Portraitköpfen von Max Uehlinger versammelt sind. Alles scheint aufgeladen mit hintergründiger Bedeutung: der Glanz der Schuhe des alten Mannes, der monströse Rollstuhl, die Gipsköpfe, die wie zu einem stummen Chor aufgestellt scheinen. Kindheit und Alter, erfülltes Leben und Behinderung, pralles Leben und versteinerter Schein treffen wie auf einer Bühne zusammen – wie zu einer Aufführung über die condition humaine.

Auch nach dem Tod von Margrit Roesch 1969 besuchen Bruno und Eric Bührer den Künstler regelmässig. Unbestechlich dokumentieren ihre Fotografien das unablässige Älterwerden des Künstlers, sein zunehmende Hinfälligkeit, seine Einsamkeit auch. Die letzten Fotografien von Carl Roesch zeigen einen alten Mann, der allein im Atelier sitzt, das ihm ebenso zu gross geworden sein scheint wie seine Strickjacke.

Markus Landert, Direktor Kunstmuseum Thurgau, Kartause Ittingen